Ein Pillow Talk von Paula.
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Bei diesem Ausruf erscheinen vor meinem inneren Auge steineschmeißende Demonstrant*innen, Bengalos oder gar Salafist*innen mit Sprengstoffgürtel. Das Wort „radikalisiert“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch ziemlich negativ besetzt. Wir hören es im Kontext extremer politischer Positionen und symbolisch ausgeübter Gewalt. Der Duden hat als Synonyme „eskalieren, schüren“ parat.
Doch wenn ich hier von „radikalisieren“ rede, dann meine ich etwas anderes: Radikal kommt von radix aus dem Lateinischen. Das bedeutet Wurzel. Man kann „radikal“ nicht nur mit „rücksichtslos“ , sondern auch „vollständig“ oder „gründlich“ übersetzen. Von diesem Wortursprung ausgehend, ist eine radikale Position also eine, die ein Problem von Grund auf betrachtet. Es von der Wurzel aus angeht. Also erneut: „Radikalisiert euch!“
In einer Welt, in der wir Tag für Tag mit Informationen überflutet werden, hören wir zwangsweise auch von politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen, zu denen wir die Hintergründe nicht kennen. Doch egal, ob du dich mit den Mechanismen der Virusausbreitung auskennst oder nicht, wenn du in deinem Insta-Feed oder in der Tagesschau die neuesten Corona-Auflagen erfährst, bildest du dir instinktiv eine Meinung dazu. Auf Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen, unseres Wissens, unserer persönlichen Interessen fällen wir meistens innerhalb weniger Sekunden ein Urteil, ob wir etwas gut oder schlecht finden, ob wir dafür oder dagegen sind. Geht man vom lateinischen Ursprung des Wortes „radikal“ aus, unterscheiden sich radikale Menschen von denen, die es nicht sind, dadurch, dass sie wissen, WARUM sie für oder gegen eine politische Entscheidung sind oder WARUM sie eine bestimmte Position einnehmen.
Instinktiv klickst du nicht auf die Nachrichten, die am umfangreichsten recherchiert sind, sondern auf den Post mit dem provokativsten Foto oder skandalösesten Statement. Eines haben alle Posts in deinem Feed gemeinsam: Dank Algorithmus ist ihr Inhalt mit hoher Wahrscheinlichkeit an deine Interessen und Werte angepasst. Auf Social Media bekommt das Sprichwort „Man sieht nur, was man sehen will“ eine ganz neue Bedeutung. Doch um uns tatsächlich eine „gründliche“ Meinung zu bilden, ist es enorm wichtig, die andere Seite zu kennen.
Egal, aus welcher Quelle wir unser Wissen beziehen – sie wird nicht neutral sein. Denn egal, was Menschen in Artikeln schreiben, in Videos zeigen oder in Podcasts erzählen – bereits durch das Auswählen und Weglassen bestimmter Informationen geben sie ihre subjektive Perspektive auf ein Thema wieder. Wenn wir immer den gleichen Politikpodcast hören oder ausschließlich Beiträge von diesem einen Newsportal lesen, basiert unser ganzes Themenwissen auf dieser einen Perspektive. Wer seine Informationen nur aus einer Quelle bezieht oder unbewusst nur das aufnimmt, was die eigene Bubble thematisiert, der bildet sich keine Meinungen, sondern übernimmt sie.
Die Meinungen zu übernehmen, die deine Bubble dir in mundgerechten Happen schmackhaft machen will, birgt eine weitere Gefahr: In der Sozialpsychologie gibt es das Phänomen der Gruppenpolarisierung. Unsere Bubble ist unsere „Ingroup“, in der wir ausschließlich Informationen präsentiert bekommen, die mit unserer eigenen Haltung konform sind. Durch das Vertreten einer besonders extremen Position erlangen wir Anerkennung und grenzen uns von der „Outgroup“ ab. Verlassen wir unsere Bubble nicht, schaukeln wir uns gegenseitig hoch und verlieren den Blick für andere Perspektiven. Es ist ein Teufelskreis: Durch immer weniger Dialog wird die gesellschaftliche Spaltung immer extremer, was noch weniger Dialog bedeutet. Die Zuspitzung der Polarisierung sind schließlich Gruppen, die sich radikalisieren – und zwar im altbekannten Sinne.
Um dem vorzubeugen, müssen wir in einer Welt voller Clickbait aktiv werden. Über den Bubble-Rand hinaus zu schauen, heißt zuallererst, zu erkennen, für welche Perspektiven unsere Bubble uns blind macht und welche Gefahren sie birgt. Dass Instagram mir nur noch vegane Rezepte anzeigt, ist schön, aber wenn Querdenker*innen sich in Telegram-Gruppen gegenseitig hochputschen und anfangen, Lügen über Impfstoffe zu verbreiten, dann haben wir als Gesellschaft ein Problem! Wenn wir den ersten Schritt geschafft und dieses Problem begriffen haben, können wir zum Beispiel Seiten abonnieren, die andere Positionen vertreten und bewusst mit Menschen reden, die anderer Meinung sind. Wir können drei, vier, fünf Quellen wählen, aus denen wir uns regelmäßig updaten. Wir können uns fragen, welche Interessen bestimmte Sender, Verlage, Profile etc. verfolgen und reflektieren, ob wir überhaupt hinter den gleichen Zielen stehen und uns fragen, ob sie unsere Meinung beeinflussen sollen.
Natürlich ist es ganz schön utopisch, sich zu jedem aktuellen gesellschaftlichen Thema umfassend zu informieren. Doch wir müssen nicht zu jedem Thema unseren Senf dazugeben – auch wenn Social Media uns gerne das Gegenteil verklickern will. Aber wenn wir unsere Meinung zu politischen Entscheidungen laut äußern und dafür einstehen, dann sollten wir sie begründen können. „Das ist einfach so“ ist keine Begründung. Außerdem brauchen wir mehr Dialog. Noch wichtiger, als mit den Menschen zu reden, die bereits die gleiche Meinung haben, ist es, mit denen zu reden, die anderer Meinung sind. Ich betone: REDEN. Nicht Steine schmeißen. Denn der Zugang zu Wissen bringt Verantwortung mit sich. An dieser Stelle zitiere ich gerne die amerikanische Autorin Toni Morrison: „If you have some power, then your job is to empower somebody else. This is not just a grab-bag candy game.” Genauso gibt es die Option, dass wir selbst eine falsche Überzeugung vertreten. So schwer es manchmal ist, einzugestehen, dass mensch falsch lag, so wichtig ist es, offen für andere Meinungen zu sein. Mensch darf seine Meinung ändern, zum Beispiel wenn er*sie eine neue Perspektive hinzugewinnt. Das passiert manchmal im Dialog. Vielleicht haben wir deswegen so viel Angst davor.
Also, sei radikal: Informier dich – auch außerhalb deiner Bubble. Hab‘ nicht nur Meinungen, sondern auch Begründungen. Rede mit Menschen. Sei offen für verschiedene Perspektiven.