Anti-Produktivitätswahn

Ein Pillow Talk von Alex

Im ersten Lockdown gingen gefühlt gleichzeitig mit den Corona-Fällen die Anzahl der Motivations-Posts in die Höhe. „Jetzt hast du die Zeit, deine Projekte zu verwirklichen und all das zu tun, was du vorher nie geschafft hast.“ Blabla. Ah okay, das war jetzt das Jahr, in dem ich mich verwirklichen sollte? Schade, hat leider nicht so wirklich funktioniert. Der Roman, den ich seitdem schreiben will, ist noch nicht länger als eine Seite. Der Produktivitätswahn hat bei mir nichts anderes ausgelöst als Druck.

Wenn wir uns in der WG abends wiedersehen und uns gegenseitig von unserem Tag berichten, fehlt eins nie in der Erzählung: wie produktiv oder unproduktiv wir heute waren. Der Kapitalismus lässt grüßen. Meine To-Do Liste ist ständig länger als die Spalte in meinem Kalender dafür vorsieht. Zugegeben, ich habe da auch paar Dinge aufgeschrieben, die innerhalb einer Minute erledigt waren – nur damit ich was abhaken kann. Bestes Gefühl. Aber da stehen auch Punkte drauf, die ich seit Ewigkeiten vor mir herschiebe. Und auch solche, die ich niemals innerhalb eines Tages schaffen würde, selbst wenn ich von 6 bis 22 Uhr ohne Pause ackern würde. Eine Handvoll To-Dos, die mir heute Abend wieder ins Auge stechen werden, so als wollten sie mir sagen: Guck mal, was du heute wieder nicht geschafft hast!

Das Kurioseste an der Sache ist: Ich hab‘ keinen Stress, ich mach mir welchen. Da ist kein Abgabedatum in der nächsten Woche, keine riesige Prüfung, die ansteht und auch kein Projekt, das schnellstens fertig werden muss. Ich schreibe zwar an der Bachelorarbeit, aber ICH HABE ZEIT.

Manchmal fällt es mir schwer, das zu begreifen und zu akzeptieren. Um mich herum scheinen alle „schnell voranzukommen“. Schon wieder eine fertig mit dem Bachelor. Der nächste arbeitet jetzt Vollzeit, die dritte hat ihre Lizenz für irgendwas gemacht. Ich, auf der anderen Seite, tue so als hätte ich den Begriff Regelstudienzeit noch nie gehört und mache bei weitem keine Anstalten auf eine 40 Stunden Woche zu kommen, geschweige denn nebenbei noch an drei Projekten zu arbeiten. Aber ist das mein Anspruch?

Am Ende des Tages möchte ich das, was ich gemacht habe, gut gemacht haben. Im besten Fall dabei Freude verspürt haben. Ich will auf die abgehakten Punkte meiner Liste schauen, nicht auf die, die noch offen sind. Oder einfach von vornherein weniger To-Dos aufschreiben. Realistischer sein. Wenn ich nichts mache, will ich bewusst nichts machen und nicht die ganze Zeit „Oh man, ich müsste jetzt eigentlich…“ denken. Und vor allem mir immer wieder sagen: Ich habe Zeit.

Im Leben müssen wir alle Schritte in unserem eigenen Tempo machen. Und manchmal auch einfach stehenbleiben. Vergleiche tun nicht gut und bringen nicht voran. Stress auch nicht. Ein klarer Kopf denkt immer noch besser als einer unter Druck. Lasst uns das bei dem Produktivitätswahn um uns herum nicht vergessen!

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